Nach dem BREXIT: Vertiefung oder Versandung Europas?
von Prof. Dr. Gustav A. Horn Weiterlesen →
Nach dem Brexit: Werden Deutschland und Frankreich ihrer Verantwortung gerecht?
von Dr. Angelica Schwall-Düren Weiterlesen →
Ohne England wird Europa wieder denkbar
von Uwe-Karsten Heye Weiterlesen →
Großbritannien vor einem Scherbenhaufen – die EU vor einem Neubeginn?
von Dr. Axel Troost Weiterlesen →
Restart Europe Now! – Initiative für ein solidarisches Europa
Die Europäische Union steht vor den größten Herausforderungen ihrer Geschichte. Seit Jahren befindet sich ihre Wirtschaft in einer Krise aus Stagnation und Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig suchen hunderttausende Menschen an den Grenzen Europas Zuflucht vor Krieg und Verfolgung. Den europäischen Staaten ist es bis heute nicht gelungen, darauf mit nachhaltigen Lösungsstrategien zu antworten. Die strikte Sparpolitik hat die Wirtschaft Südeuropas nicht beleben können und die Abschottung gegen die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen basiert auf einem wackeligen Abkommen mit der Türkei. Man droht mit dieser Politik die Werte in Frage zu stellen, auf deren Basis die Europäische Union einst gegründet worden ist und die sie in der Welt einzigartig machen.
Ziel der Initiative: Europäisches Bewusstsein in der deutschen Öffentlichkeit
Als Antwort auf diese katastrophale Fehlentwicklung hat sich „Restart Europe Now!“ gegründet. Das Ziel dieser Initiative ist es, innerhalb der deutschen Öffentlichkeit ein europäisches Bewusstsein zu schaffen. Die Bundesrepublik muss erkennen, dass ihre politische und ökonomische Stärke ihr nicht nur Anerkennung verleiht, sondern für sie zugleich auch Verpflichtung ist. Wir müssen verstehen lernen, dass unser Wohlstand abhängig von der Stabilität und sozialen Sicherheit unserer Nachbarländer ist. Politik im Interesse Deutschlands muss daher heute immer auch im Interesse Europas gedacht werden.
Überparteiliches Gründungsmanifest
„Restart Europe Now!“ ist überparteilich organisiert. Gegründet aus einem Kreis von Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Parteilosen kooperieren wir mit allen Kräften, die unsere Forderungen unterstützen und rufen dazu auf, unser Gründungsmanifest zu unterzeichnen. Über die Presse, die sozialen Medien und unsere Webseite restart-europe-now.de werden wir uns ab sofort zu Wort melden. Wir werden Fehlentwicklungen in der deutschen Europapolitik kritisieren und konkrete Vorschläge für alternative Strategien einbringen, die im Einklang mit den Werten unserer Gesellschaft eine nachhaltige Lösung der Krisen Europas bieten.
Die Europäische Union braucht einen Neuanfang. Doch dieser kann nur gelingen, wenn Deutschland sich aktiv einbringt. Dass dies erreicht wird, dazu wollen und werden wir beitragen.
Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner sind u.a.:
Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission
Franziska Brantner, MdB Bündnis 90/Die Grünen
Peter Eigen, Gründer und Vorsitzender des Beirats Transparency International
Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit
Dierk Hirschel, Gewerkschaftssekretär ver.di
Reiner Hoffmann, DGB Bundesvorsitzender
Gustav Horn, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen
Gerhard Schick, MdB Bündnis 90/Die Grünen
Ralf Stegner, stellv. Parteivorsitzender der SPD sowie Fraktions- und Landesvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein
Axel Troost, MdB und stellv. Parteivorsitzender DIE LINKE
Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin a.D.
Harald Wolf, MdA DIE LINKE und Senator a.D.
Griechenland braucht endlich Licht am Ende des Tunnels
Mit mehreren Monaten Verspätung haben die Euro-Finanzminister Ende Mai den Weg für die Auszahlung weiterer Milliarden an Griechenland freigemacht. Ein krisenhafter Show-down wie im letzten Jahr, als Griechenland vor der Alternative stand: entweder das Diktat der Troika zu akzeptieren oder den Staatsbankrott und eine soziale Katastrophe in Kauf zu nehmen, wurde vermieden.
Das „Hilfsprogramm“ läuft weiter, aber aufgrund der extrem anspruchsvollen Sparvorgaben auch die Austeritätspolitik, die sich in der Vergangenheit als untauglich erwiesen hat, einen Weg aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise Griechenlands zu weisen. In den akademischen Diskursen setzt sich deshalb schon seit längerem mehr und mehr die Einschätzung durch, dass die bisherige Politikstrategie gescheitert ist.
In Folge der von den europäischen Institutionen und dem IWF verordneten Kürzungspolitik hat Griechenland schließlich ein Viertel seines Bruttoinlandsproduktes eingebüßt, die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 25 Prozent, bei den 15-bis 24jährigen bei fast 50 Prozent. Über 70 Prozent der Arbeitslosen sind seit mehr als einem Jahr ohne Arbeit und erhalten deshalb keine staatliche Unterstützung mehr. Angesichts dieses dramatischen – in der europäischen Nachkriegsgeschichte einmaligen – Einbruchs der öffentlichen und privaten Nachfrage und des ökonomischen Niedergangs ist die Staatsverschuldung Griechenlands nicht gesunken, sondern von 103,8 Prozent im Jahr 2007 auf 176,4 Prozent gestiegen.
Diese Entwicklung hat mittlerweile sogar beim IWF deutliche Zweifel am laufenden Programm aufkommen lassen. Das laufende „Hilfsprogramm“ verlangt einen Primärüberschuss des griechischen Haushalts von 3,5 Prozent ab dem Jahr 2018 und in den Folgejahren, obwohl es weltweit kaum Staaten gibt, denen dies in der Vergangenheit gelungen ist. Dagegen hält der IWF lediglich einen Primärüberschuss von 1,5 Prozent für realistisch und damit die griechische Schuldenlast für nicht tragfähig. Vor dem Hintergrund dieser überharten Sparauflagen hat der IWF in den Verhandlungen mit der Eurogruppe konsequenterweise Schuldenerleichterungen für Griechenland verlangt. Die langfristigen Sparvorgaben des dritten „Hilfsprogramms“ sind weder realisierbar noch ökonomisch oder sozial wünschenswert. Die langfristigen Haushaltsziele müssten daher entweder deutlich abgesenkt werden oder es müssten entsprechende Schuldenerleichterungen vorgenommen werden.
Seit dem Sommer des letzten Jahres befindet sich die griechische Regierung nach der Erpressung durch die Troika in der schwierigen Situation, die einst heftig bekämpften Sparauflagen umzusetzen. So war sie gezwungen, eine Mehrwertsteuererhöhung umsetzen, die Gift für die griechische Konjunktur ist. Ebenso war sie zu einer Reform des Rentensystems verpflichtet. Seit 2010 wurden die Renten bereits mehrfach gekürzt. Die Gläubiger hatten weitere Einsparungen von einem Prozent der Wirtschaftsleistung gefordert, die durch eine pauschale Rentenkürzung um 30 Prozent erreicht worden wäre.
Die griechische Regierung versucht ihre geringen Spielräume zu nutzen, um die sozialen Kosten der Austeritätspolitik gering zu halten, besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen zu schützen, die Kosten für Normal- und Geringverdiener zu minimieren und die Wirtschaft zu stabilisieren. So weist der Haushalt 2016 erstmals seit dem Ausbruch der Krise leichte Mehrausgaben für Krankenhäuser, das Sozialsystem und Beschäftigung aus. Zwei Millionen Unversicherte haben wieder Zugang zur Gesundheitsversorgung bekommen. Ein Sofortprogramm gegen absolute Armut bietet Zugang zu Stromversorgung, zu Lebensmitteln und öffentlichem Nahverkehr. Zwar sinken zukünftige Renten gemäß der jüngst verabschiedeten Rentenreform durchschnittlich um etwa 15 Prozent. Doch die Reform trifft vor allem die obersten zehn Prozent der Bevölkerung. Sie umfasst eine Kürzung der höchsten Rentenbezüge, die Zusammenlegung der zahlreichen Versicherungen, die Anhebung der Rentenbeiträge und die Erhöhung der Steuern auf mittlere und höhere Einkommen. Deutlich belastet werden demnach gut verdienende Freiberufler wie Ärzte, Apotheker, Ingenieure und Rechtsanwälte – Berufsfelder, die bisher gut im klientelistischen System verankert waren und in denen Steuerbetrug weit verbreitet ist. Niedrige und mittlere Bestandsrenten werden vorerst nicht angetastet und nur langfristig an das neue Rentenniveau herangeführt. Unabhängig von der Lebensarbeitszeit soll es eine Basisrente von 384 Euro monatlich geben und das Rentenniveau nach 40 Beitragsjahren bei 60 Prozent liegen.
Wirtschaftlich widersinnig sind auch die von den Institutionen geforderten Privatisierungsprogramme. Griechenland mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise zur Privatisierung öffentlicher oder halböffentlicher Unternehmen zu zwingen, ist ökonomisch kontraproduktiv. Derartige Privatisierungen erfolgen zu Schleuderpreisen und bedeuten den Verzicht auf künftige kontinuierliche Einnahmequellen für den Staatshaushalt. So wurde Griechenland gezwungen, die Betreiberlizenz für 14 rentable Flughäfen an ein Konsortium aus der deutschen Fraport und einem griechischen Oligarchen zum einmaligen Preis von 1,23 Mrd. Euro und jährlichen Pachtzahlungen und einer Gewinnbeteiligung zu vergeben. Aber bereits heute beträgt der Gewinn dieser Flughäfen 150 Millionen Euro pro Jahr und die Flughäfen haben ein hohes Wachstumspotenzial insbesondere auf den populären Touristenzielen. Damit fließt ein Großteil der Gewinne aus den profitabelsten griechischen Flughäfen in die öffentlichen Haushalte Deutschlands – denn die Fraport gehört mehrheitlich der Stadt Frankfurt und dem Land Hessen, während Griechenland eine langfristige Einnahmequelle verloren gegangen ist. Gleichzeitig gelang es Fraport vertraglich abzusichern, dass eine Vielzahl von Risiken weiter vom griechischen Staat getragen werden muss und das Konsortium von allen Immobilien- und Gemeindesteuern befreit ist.
Eine Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Griechenland wird mit der Fortsetzung der bisherigen von den Institutionen und der deutschen Bundesregierung massiv vorangetriebenen Politik nicht gelingen. Nach Jahren der Entbehrung und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs weitere Sparanstrengungen zu fordern ist politisch realitätsblind, ökonomisch kontraproduktiv und der griechischen Bevölkerung nicht zuzumuten. Die Forderung nach einem Primärüberschuss von 3,5 Prozent ab 2018 muss auf ein realistisches Maß korrigiert werden. Nur so kann Griechenland Spielraum für eine Wiederbelebung der Wirtschaft und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut erhalten. Hierfür sind vor allem höhere öffentliche Investitionen und angemessene Sozialtransfers erforderlich. Um diese finanzierbar zu machen, müssen die griechischen Schulden in langfristige Schuldpapiere mit niedriger Verzinsung umstrukturiert werden. Die milliardenschweren Gewinne, die die EZB und die nationalen Notenbanken mit günstig aufgekauften griechischen Staatsanleihen machen (insgesamt ca. 7 Mrd. Euro), müssen Griechenland zur Verfügung gestellt werden. Statt des Ausverkaufs öffentlichen Eigentums muss der griechischen Regierung die Möglichkeit gegeben werden, öffentliche Unternehmen zu reformieren, sie aus dem alten klientelistischen System zu befreien und so dauerhafte Einnahmequellen zu sichern.
Der griechische Fall muss dabei immer auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingsherausforderung und der konjunkturellen Lage anderer Euroländer betrachtet werden. Durch seine Position an der europäischen Außengrenze war Griechenland von den Menschenströmen aus dem Nahen Osten und Afrika am stärksten betroffen. Doch auch nach der Schließung der Balkanroute bleibt die Situation prekär. Die zusätzliche Belastung für einen ohnehin schon über die Maße strapazierten Staat droht durch das brüchige EU-Türkei-Abkommen noch weiter verschärft zu werden. Griechenland kann diese Krise unmöglich alleine bewältigen und ist daher, wie alle Länder an den Außengrenzen der Europäischen Union, auf die Unterstützung seiner Partnerländer angewiesen. Ein gemeinsamer europäischer Grenzschutz ist daher genauso dringend geboten wie ein europäisches Asylverfahren, legale Einwanderungsmöglichkeiten innerhalb Europas und eine Verteilung der Flüchtlinge gemäß regionaler Möglichkeiten und der Aufnahmebereitschaft der jeweiligen Kommunen. Eine gemeinsame europäische Finanzierung zur Bewältigung dieser Herausforderung muss dabei als Chance gesehen werden, auch einen Beitrag zur Überwindung der andauernden Konjunkturkrise Europas zu leisten. Griechenland ist in den letzten Jahren zum Versuchsfeld einer gescheiterten Sparpolitik geworden. Der griechische Fall besitzt daher Strahlkraft für ganz Europa, insbesondere für den Süden, dessen Wirtschaft stagniert und dessen Arbeitslosigkeit konstant hoch ist. In Italien, Portugal und Spanien bleibt der Einzelhandelsumsatz nach wie vor deutlich unter dem Niveau von 2010, ähnliches gilt für die Entwicklung in der Bauproduktion. Eine Trendwende ist auch nach sechs Jahren Austerität nicht in Sicht. Es ist daher dringend geboten, dass die Europäische Union in Griechenland ein Zeichen setzt, damit Athen überfällige Investitionen tätigen kann, die eine Rückkehr zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ermöglichen.
Ein Weg heraus aus der aktuellen europäischen Misere in der Flüchtlingspolitik
Bisher gibt es weder theoretisch noch praktisch eine durchdachte deutsche oder europäische Flüchtlingspolitik. Sie müsste von der grundlegenden Einsicht ausgehen, dass die zunehmenden Flüchtlingswanderungen nicht neu sind und anhalten werden, je weniger es gelingt, dass die Ursprungsländer auf eigene wirtschaftliche und rechtsstaatlich-politische Weise auf die Beine kommen.
Die EU-Kommission hat erste Schritte für eine europäische Flüchtlingspolitik (europäische Grenze und Grenzschutz, europäisches Asylverfahren, nationale Kontingente in Europa) veröffentlicht, muss aber immer, wenn es zur Frage ihrer Finanzierung kommt, mit dem Widerstand der europäischen Länder, insbesondere von Wolfgang Schäuble und Angela Merkel rechnen. Zugleich wird der Druck größer,
- sich nicht immer mehr von Erdogan abhängig zu machen,
- Todestragödien im Mittelmeer oder woanders auf der Flucht zu vermeiden,
- unkontrollierte bzw. ungesteuerte Einreisen von Flüchtlingen nach Europa zu vermeiden,
- sich aber nicht nur auf Abschreckung zu fokussieren, was den Werten der EU zuwider läuft und außerdem auf Dauer unwirksam ist.
Die einzige Chance, eine humane und zugleich gesteuerte und kontrollierte Flüchtlingspolitik zu betreiben, die den EU-Werten entspricht, liegt darin, legale Zugänge nach Europa in Europa zu eröffnen mit freiwilliger Beteiligung der europäischen Aufnehmer ebenso wie der Flüchtlinge. Ziel könnte sein, pro Jahr ca. 500.000 Flüchtlinge in Gesamteuropa aufzunehmen.
Dazu brauchen wir zusätzlich zum Asylgesetz ein europäisches Einwanderungsgesetz, das legitim und legal eine Obergrenze für Einwanderer (nicht für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge!) festlegt und Wartelisten anzulegen erlaubt. Diese Schritte brauchen viel Zeit und sind aktuell in der EU noch gar nicht konsensfähig.
Kurzfristig haben Emmanuel Macron und Sigmar Gabriel im vergangenen Herbst einen 10 Milliarden Fonds zur Stabilisierung der Region um Syrien herum vorgeschlagen. George Soros hat seinerseits angeregt, dass die EU jährlich 30 Milliarden aufwendet (z.B. über Anleihen), um die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU zu finanzieren und zugleich ein Wirtschaftswachstum anzuschieben. Matteo Renzi hat ebenfalls einen Anleihe –Fonds der EU für die Aufnahme von Flüchtlingen und für die Stabilisierung von Nordafrika nahegelegt und in Italien ein Programm begonnen, das es Gemeinden ermöglicht, sich um Finanzierung für die Aufnahme von Flüchtlingen zu bewerben. Maria Joao Rodrigues hat eine Umwandlung der Flüchtlingskrise in eine Wachstumsinitiative vorgeschlagen, bei der die Flüchtlingsaufnahme wie die Außengrenzen europäisiert und europäisch finanziert werden sollen. Die aufnehmenden Länder sollen Finanzhilfen für notwendige Infrastrukturmaßnahmen zur Aufnahme von Flüchtlingen durch Flüchtlings-Bonds erhalten, damit zugleich ein Wachstum initiieren und Arbeitsplätze schaffen können.
Bisher sind diese Ideen daran gescheitert, dass der Europäische Rat unter der Führung der deutschen CDU/CSU jegliche Flüchtlings-Anleihen abgelehnt hat. Dabei hoffen die CDU/CSU und Bundeskanzlerin Merkel weiterhin auf eine Lösung der ungeregelten Flucht durch das Abkommen mit der Türkei, durch weitere gleichartige Abkommen mit nordafrikanischen Ländern (z.B. Libyen) und durch deren Erklärung zu sicheren Drittstaaten. Damit sollen die Flucht nach Europa generell gestoppt bzw. die Flüchtlinge abgeschreckt und – gegebenenfalls – außerhalb der EU legale Zugangsmöglichkeiten nach Europa geschaffen werden.
Alle drei Vorschläge schließen die massive Missachtung von Menschenrechten ein, entziehen damit der EU ihre ethische Glaubwürdigkeit, d.h. die normative Basis ihrer politischen Ordnung, bleiben eine Antwort auf den offenkundigen innereuropäischen Mangel an Solidarität und die innere Erosion des europäischen Zusammenhalts durch wiedererrichtete innereuropäische Grenzen schuldig und sind hilflos gegenüber der andauernden sozialen und ökonomischen Krise der Arbeitslosigkeit, der grassierenden Armut und der zunehmenden sozialen Diskrepanzen in der EU. Damit setzen sie die Zukunft der Europäischen Union und der Nationalstaaten, auch Deutschlands auf’s Spiel. Und sie lassen das Potenzial an Hilfsbereitschaft und Innovationsenergie in der EU brach legen.
Dabei bietet die jetzige Situation die Chance, einen konsequenten Schritt in Richtung einer humanitären europäischen Flüchtlingspolitik zu tun und zugleich – gleichsam als Scharnier – einen pragmatischen und attraktiven Übergang in eine Investitions- und Wachstumsstrategie zu finden. Damit können – salopp gesagt – drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden:
- Wir können eine wertekonforme humane Flüchtlingspolitik mit legalem Zugang nach Europa beginnen.
- Wir können eine Wachstumspolitik in Europa einleiten.
- Wir können einen politischen Neustart in der EU initiieren durch eine bottom-up Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen, die zugleich sozialen Zusammenhalt und europäische Identität stiftet.
Chance eines Anreizsystems über einen Fonds
Da alle festgelegten europaweiten Kontingente bzw. Verteilungen von Flüchtlingen auf die Nationalstaaten bisher gescheitert sind und in Zukunft vielleicht auch an den Entscheidungen der Flüchtlinge selbst scheitern, muss ein positives Anreizsystem – kein Bestrafungssystem – geschaffen werden, das
- einen Zuzug unterhalb der Ebene der Nationalstaaten in den Kommunen ermöglicht (weil die nationalen Regierungen Angst vor ihren rechten Parteien haben)
- auf Freiwilligkeit bei den Aufnehmenden wie bei den Flüchtlingen beruht
- statt der Verteilung „von oben“ eine Nachfrage „von unten“ initiiert.
Der Weg:
Wir sollten einen europäischen (nicht nationalen! nicht regionalen! nicht landesspezifischen!) Fonds schaffen, bei dem sich die europäischen Gemeinden, die dazu bereit sind, für die Finanzierung der Aufnahme von Flüchtlingen bewerben können. Das könnte zunächst durch ein Pilotprojekt geschehen, das auf die Unterbringung der 160.000 Flüchtlinge zielt, die aufzunehmen die Nationalstaaten schon beschlossen haben. Hier würde sich die Frage der Genehmigung durch die Nationalstaaten erst einmal erübrigen. Die nationalen Regierungen wären ihrerseits von der Sorge befreit, intern rechte Parteien zu stärken, wenn sie sich bereit erklären, die versprochenen Kontingente von Flüchtlingen aufzunehmen, um die Kommunen sich bewerben.
Rechtlich bleibt die Genehmigiung von Flüchtlingen bei den Nationalstaaten. Sie ist nicht zu umgehen. Wenn man die kommunale Aufnahme über die bereits zugesagten 160 000 Flüchtlinge hinaus organisieren will, kann man auf der Grundlage eines zu organisierenden Fonds Gemeinden einladen, sich um Flüchtlinge zu bewerben. Die Staaten müssen der Aufnahme zustimmen und es müssten nationale Kommissionen gebildet werden, die über die Bewerbung der Gemeinden entscheiden. Ihnen sollten Multi-Stakeholder Beiräte (incl. NGO’s) für die Vorauswahl zugeordnet werden, damit die Auswahl nicht einfach nach „bürokratischen“ Kriterien erfolgt. Das genaue Verfahren ebenso wie die Konstituierung des Fonds müssen weiter ausgearbeitet werden.
Die Chance dieses Vorschlags liegt trotz des „Nadelöhrs“ der nationalen Zustimmung zur Aufnahme von Flüchtlingen darin, dass es den Nationalstaaten schwerer fällt, Flüchtlinge abzulehnen, wenn sich gemeinden aus eigenem Interesse für die Aufnahme melden. Dadurch ändert sich die Legitimationssituation.
Für Gemeinden besteht ein vielfältiger Anreiz, angesichts des demographischen Wandels ihre Zukunft und ihre Infrastruktur durch neue Bewohner zu sichern und weiterzuentwickeln.
Die Regelung sollte vorsehen, dass die aufnahmebereiten Gemeinden zu einer gemeinsamen Entscheidung durch eine Governance gelangen, an der die kommunalen politischen Vertreter, die organisierte Zivilgesellschaft (einschließlich von Gewerkschafts- und Kirchenvertretern) sowie Vertreter der Unternehmen teilnehmen. Diese Entscheidung müsste sich auf Projekte beziehen, die zugleich den innergemeindlichen Zusammenhalt stärken. So könnte an der Basis der Graben überwunden werden, der in vielen europäischen Ländern vor allem Arbeitgeber und Arbeitnehmer voneinander trennt. Darüber hinaus würde dieses Vorgehen eine neue bürgernahe europäische Identität stiften, die durch zwischengemeindliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit und good practice Austausch weiter gestärkt werden könnte.
Merkmale des Fonds
Der Fonds könnte als Trust-Fonds an einer anerkannten europäischen Institution angesiedelt sein (z.B. der EIB), allerdings besondere Regeln der Zusammensetzung und der Entscheidungsfindung beachten. Denn dessen Ziel ist nicht einfach die Sicherung schneller und hoher Rendite, sondern – im Sinne der neuen Idee des „social impact investment“:
- die Investition in sozial integrative Projekte in Bezug auf die Bewohner der Kommunen, die sich trotz unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten (Arbeitnehmer/Arbeitgeber) für die Entscheidung einigen müssen
- die Reduzierung von Arbeitslosigkeit der Bewohner der Kommunen durch nachhaltiges Wachstum
- der Einbau einer Komponente zur Verhinderung von Korruption (z.B. das Programm „Local Integrity System“ von Transparency International)
- eine überlegte Strategie der Integration von Einwanderern und „Alteingesessenen“
- eine Erneuerung des europäischen Zu- und Zusammengehörigkeitsgefühls
- die Erneuerung und Verlebendigung der normativen Grundlagen der EU durch die realistische Perspektive eines legalen Zugangs von Flüchtlingen in die EU.
Die Finanzierung des Fonds könnte über europäische Anleihen geschehen. Eine Variante wäre über Extrazahlungen der Nationalstaaten , vielleicht mit der Bedingung, dass sich nur Gemeinden aus den Staaten bewerben können, die eingezahlt haben.
Überparteiliche Initiative „Restart Europe Now!“
Wir wollen für eine bessere Europapolitik sorgen.
Europa ist in seiner bislang schwersten, ja in einer existenziellen Krise, die an die faktischen und die moralischen Wurzeln des Zusammenschlusses geht. Die britische Abstimmung über einen Verbleib des Königreichs in der EU, die noch immer nicht gelöste Euro-Krise, die zunehmende Polarisierung gegenüber Russland und die Zuspitzung des Flüchtlingsdramas, in dem die Abschottung zwischen den Staaten zunimmt und Europa zu jener Festung zu werden droht, die es nie werden wollte – alles dies unterminiert unsere Wertegemeinschaft und trägt zur Auflösung des europäischen Zusammenhalts bei.
Gleichzeitig steht eine Reihe von Mitgliedsländern in der Union unter dem Druck rechtskonservativer, rechtsextremistischer und europaskeptischer Parteien, die bei einem Wahlerfolg dem britischen Vorbild nachfolgen dürften. Die jüngsten Studien der OECD erkennen, mit Ausnahme der skandinavischen Länder, eine zunehmende soziale Spaltung in den europäischen Mitgliedsländern, die ebenfalls zu einer Stärkung der rechtsextremen Parteien beiträgt.
Die Austeritätspolitik, die auf Druck Deutschlands alternativlos durchgesetzt wird und die demokratische Legitimation der EU schon seit Jahren unterminiert, stärkt zudem Fliehkräfte, die das grenzenlose Europa erst schwächen und dann zerstören können. Darunter leidet auch ganz offensichtlich die Attraktivität der Europäischen Idee bei den jungen Europäerinnen und Europäern, die besonders stark von Arbeits- und Perspektivlosigkeit betroffen sind. Um dagegen anzugehen, haben sich Mitglieder verschiedener Parteien, von Gewerkschaften, Kirchen, der organisierten Zivilgesellschaft, ebenso wie aus der Wirtschaft und Wissenschaft zusammengefunden, um öffentlich für die demokratische und soziale Festigung und Weiterentwicklung der Europas zu kämpfen.
Die Europäische Union gründet im freien Zusammenschluss der europäischen Staaten und im Respekt vor ihrer Vielfalt. Sie ist eine Antwort auf die Zerstörung Europas im zweiten Weltkrieg und auf eine deutsche Hybris, die sich das vielfältige Europa untertan machen wollte, nicht zuletzt durch eine Politik und durch Ordnungsvorstellungen, die den Nachbarn aufgezwungen werden sollten. Der Erfolg dieser inneren Einheit Europas wurde in den letzten Jahren gerade auch durch deutsche Politik zunehmend aufs Spiel gesetzt.
Deshalb müssen wir dringend umsteuern. Auf neuen Wegen müssen wir zur Wiederbelebung der einigenden Europäischen Idee durch konkrete wirtschaftliche, soziale, friedenspolitische und kulturelle Initiativen und Strategien gelangen und damit den Europäischen Zusammenhalt stärken und weiterentwickeln.
Dazu werden wir von Zeit zu Zeit konkrete Maßnahmen ebenso wie langfristige politische Perspektiven vorschlagen und Kampagnen starten, die die Politik herausfordern und beeinflussen sollen.
Wir sind eine Gruppe von europapolitisch engagierten Personen, die „Restart Europe Now!“ gegründet haben. Wir sind offen für persönliche und sachliche Vorschläge und für engagierte Mitarbeiter, die dem Ziel folgen, die demokratische Legitimation der Europäischen Union, ihren sozialen Zusammenhalt, den wirtschaftlichen Wohlstand aller Bürgerinnen und Bürger und das Engagement des Kontinents für den globalen Frieden zu unterstützen.
Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:
Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und zweimalige Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin
Klaus Barthel, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) in der SPD
Andreas Botsch, Abteilungsleiter Europa und Internationales sowie DGB Bundesvorstand
Franziska Brantner, MdB Bündnis 90/Die Grünen
Florian von Brunn, MdL SPD
Sebastian Dullien, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin sowie Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations
Peter Eigen, Gründer und Vorsitzender des Beirats Transparency International
Janis Fifka, Jusos Münster
Detlev Ganten, Präsident des World Health Summit
Jörg Hafkemeyer, Professor an der UdK Berlin und Publizist
Uwe-Karsten Heye, Autor und Publizist
Dierk Hirschel, Gewerkschaftssekretär
Johannes Hiry, Jusos Saar
Reiner Hoffmann, DGB Bundesvorsitzender
Gustav Horn, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen
Cansel Kiziltepe, MdB SPD
Lukas Krüdener, Jusos Berlin
Henning Meyer, Social Europe und SPD Grundwertekommission
Hans Misselwitz, Staatssekretär a.D.
Peter Ruhenstroth Bauer, Rechtsanwalt, Staatssekretär a.D.
Gerhard Schick, MdB Bündnis 90/Die Grünen
Harald Schumann, Journalist und Filmautor
Angelica Schwall-Düren, Staatsminister a.D.
Dieter Spöri, Minister a.D. und Ehrenpräsident der Europäischen Bewegung Deutschland
Ralf Stegner, stellv. Parteivorsitzender der SPD sowie Fraktions- und Landesvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein
Ernst Stetter, Generalsekretär Foundation for European Progressive Studies
Johano Strasser, Mitglied der SPD-Grundwertekommission
Carolina Tobo, Bundesvorstandsmitglied SPD Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt
Axel Troost, MdB und stellv. Parteivorsitzender DIE LINKE
Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos in der SPD
Hans-Jürgen Urban, IG Metall
Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin a.D.
Harald Wolf, MdA und Senator a.D. & Mitglied des Parteivorstands DIE LINKE
Fabian von Xylander, SPD Berlin