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Anders und besser wirtschaften in Europa! Alternative Wirtschaftspolitik heute.

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Vortrag anlässlich der Verleihung des Jörg-Huffschmid-Preis 2017 am 6.12.2017 von Dr. Axel Troost

Zunächst möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, hier anlässlich der Verleihung des Jörg-Huffschmid-Preises sprechen zu dürfen. Wie einige hier im Saal sicher wissen, hat mich eine über 30-jährige persönliche Freundschaft und wissenschaftliche und politische Zusammenarbeit mit Jörg Huffschmid verbunden.

Ich werde in meinem ca. 25-minütigen Vortrag zunächst mit zwei Thesen zur heutigen Bedeutung von Wirtschaftspolitik beginnen, die ich dann in Richtung alternativer Wirtschaftspolitik in Europa zusammenführen. Im zweiten Abschnitt gehe ich dann darauf ein, wie alternative Wirtschaftspolitik heute konkret aussehen könnte und müsste. Am Ende richten wir den Blick dann noch mal etwas allgemeiner nach vorn.

Beginnen wir mit zwei Einstiegsthesen.

  • 1: „Die Chancen einer autonomen nationalen Wirtschaftspolitik waren nie schlechter als heute“
  • 2: „Die Notwendigkeit einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik war nie größer als heute.“

Was zunächst wie ein unlösbarer Widerspruch klingt, lässt sich durchaus auflösen: Die Zeit autonomer nationaler Wirtschaftspolitik ist zwar vorbei, dafür ist die Zeit einer langfristig ausgerichteten transnationalen bzw. europäischen Wirtschaftspolitik umso mehr gekommen.

Die ökonomische Integration ist durch Globalisierung und insbesondere Europäisierung inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich eine autonome Wirtschaftspolitik im Nationalstaat praktisch kaum mehr erfolgreich umsetzten lässt. Es könnte zwar theoretisch funktionieren, aber dafür müsste man die heutige und zukünftige Wirtschaftspolitik der Handelspartner genau kennen, müsste deren Auswirkungen antizipieren können und müsste dann die eigene Wirtschaftspolitik sehr vorausschauend – also quasi drei Züge im voraus – strategisch danach ausrichten.

Derart hohe Anforderungen sind praktisch nicht zu erfüllen, denn gute Wirtschaftspolitik braucht nun mal ein paar Jahre bis zum Erfolg und soweit kann niemand in die Zukunft schauen. In irgendeinem der wichtigen Handelspartner stehen immer gerade Wahlen mit ungewissem Ausgang an, es kommt irgendeine dem Kapitalismus nun mal innewohnende kleine oder größere Krise dazwischen oder ein bedeutsamer unerwarteter Umstand wie z.B. der Fall der Mauer oder eine Atomkatastrophe in Fukushima kommen dazwischen und mischen die Karten neu.

Die herrschende ökonomische Schule – also die Neoklassik – hat eine klare Antwort auf diese Situation: aufgrund der Komplexität und Unberechenbarkeit von Globalisierung und Europäisierung soll der Staat von strategischer Wirtschaftspolitik schlichtweg die Finger lassen.

Statt dessen sollen sich die Staaten im Inland und – über multilaterale Vereinbarung – auch im Weltmaßstab zu berechenbaren Spielregeln verpflichten, damit die Märkte unverfälschte Signale für die betriebswirtschaftlich richtigen Entscheidungen der privaten Unternehmen geben können.

Unterstellt wird dabei, dass Marktsignale – d.h. praktisch die Entwicklung einzelner Preise – die Komplexität wirtschaftlicher Entwicklungen soweit abbilden, dass die Unter-nehmen allein daraus die korrekten Richtungsentscheidungen für ihre Unternehmensstrategie ableiten können. Das ist ein immens hoher Anspruch an die Indikatorfunktion von Preisen bzw. Märkten, wenn man gleichzeitig bedenkt, dass das Niveau von Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeiten angeblich zu hoch ist, als dass eine staat-liche Behörde daraus irgendwelche Schlussfolgerungen für eine eigene Wirtschafts-politik ableiten können soll.

Oder es ist die Annahme, dass staatliche Behörden grundsätzlich eher dumm und unfähig, private Unternehmenslenker hingegen zumindest zu einem erheblichen Teil besonders intelligent, kompetent, geradezu genial sind.

Um nicht missverstanden zu werden: Auch die herrschende neoklassische Wirtschaftswissenschaft wird von sich sagen, dass es so etwas wie Wirtschaftspolitik gibt und braucht, dass also staatlichem Agieren in Fragen der Wirtschaft eine große Bedeutung zukommt, gerade auch auf internationaler Ebene.

Gemeint sind damit aber multilaterale Abkommen, die das Handeln von Staaten gerade dadurch für Unternehmen berechenbar machen sollen, dass sich die Staaten wirtschaftspolitisch zum Nicht-Eingreifen, zur Nicht-Politik verpflichten, um den vermeint-lichen Marktkräften freien Lauf zu lassen.

Und tatsächlich: Wenn sich z.B. die Bundesrepublik erst einmal zur Mitgliedschaft in einer EU, einer WTO oder einem CETA entschieden hat, können nachfolgende Bundestagswahlen daran nur sehr schwer etwas ändern. Aus neoliberaler Sicht wird auf diese Weise ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor des Wirtschaftsgeschehens, nämlich nationale Demokratie, weitgehend neutralisiert.

Um ein zweites Missverständnisse zu vermeiden: ich habe nichts grundsätzlich gegen Märkte. Marktpreise können wichtige Informationen geben. Wogegen sich aber die Anhänger einer alternativen Wirtschaftspolitik wenden ist die naive Allmachtsphantasie, mit der marktgläubige Ökonomen und Politiker die Möglichkeiten und Fähigkeiten von Märkten grandios überschätzen. Marktpreise geben mir im guten Fall eine hilfreiche Information über eine ökonomische Entwicklung bis zum jetzigen Zeitpunkt bzw. – gerade auf Finanzmärkten – über die Zukunftserwartungen von Marktteilnehmern. Märkte sind aber kein Orakel, dass die Zukunft kennt. Und noch viel weniger sind Märkte eine geeignete Richtschnur dafür, welche Zukunft man anstreben sollte.

Es ist wie mit dem Rückspiegel im Auto auf der Landstraße: auch der kann mir nur sagen, ob mir vielleicht ein oder mehrere Autos von hinten drauffahren werden, wenn ich hier und jetzt wie angewurzelt stehen bleibe. Der Rückspiegel verrät mir aber nichts darüber, ob vor mir eine Kurve liegt, selbst wenn die rückwärtige Straße völlig gerade verläuft. Das spricht nicht gegen den Rückspiegel, sondern nur dafür, dass man zum Autofahren auch eine Frontscheibe nach vorne braucht.

Das Bild von der Landstraße taugt auch noch in anderer Hinsicht ganz gut. Während die Neoklassik von nur einem möglichen Marktgleichgewicht – gleichsam einem einzigen Straßenverlauf nach vorne – ausgeht, unterstellt alternative Wirtschaftspolitik immer das Vorhandensein einer Vielzahl von Weggabelungen – bzw. erreichbaren Marktkonstellationen. Während die Neoklassik quasi nur eine Richtung kennt – und demnach auch keinen Bedarf nach strategischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen sieht – braucht es in einer linken Ökonomie, sei sie nun eher keynesianischer oder marxistischer Art, immer ein Lenkrad für politische Entscheidungen, wohin an Weggabelungen und -kreuzungen gesteuert werden soll.

Zugespitzt ausgedrückt kann aus linker Sicht eine Laissez-Faire-Politik, also bildlich gesprochen der bewusste Verzicht der Neoklassik auf ein Lenkrad, nur im Graben oder am Baum enden.

Wenn ich also von Alternativer Wirtschaftspolitik spreche, meine ich einerseits die Rück-kehr zu einem zielgerichteten und längerfristigen Vorgehen des Staates zur Beeinflussung der Wirtschaftsentwicklung.

Andererseits meine ich damit aber eben auch automatisch eine mindestens europäisch gedachte Zukunftsperspektive, denn die Zeiten, in denen selbst Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land Europas eine nationale Wirtschaftsstrategie z.B. für seine Stahl-, Werften-, Agrar oder Chemieindustrie ohne Berücksichtigung seiner ausländischen Handelspartner und -konkurrenten ausdenken und umsetzen konnte, sind wirklich lange vorbei.

Alternative Wirtschaftspolitik meint also notwendig eine aktive und transnationale Politik. Kaum jemand hat diese Einsicht besser verkörpert als Jörg Huffschmid. Als viele linke Ökonomen in Deutschland nach der Wiedervereinigung noch primär über Wirtschaftspolitik im nationalen Rahmen gestritten haben, hat Jörg mit einigen Gleichgesinnten bereits 1995 die Europäische Memorandum-Gruppe ins Leben gerufen.

Der Titel des ersten Euro-Memorandums vor fast genau 20 Jahren im Jahr 1997 klingt daher wohl nicht nur für mich wie eine Prophezeiung. Er lautete „Vollbeschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Gleichheit für Europa – Alternativen zur Wettbewerbs-Auste-rität“.

Damit komme ich zum zweiten Teil des Vortrags, nämlich der Frage:

 

Was aber genau meint dann Alternative Wirtschaftspolitik heute?

Das ist eigentlich gar nicht so schwer zu sagen, denn in wesentlichen Eckpunkten sind sich linke ÖkonomInnen relativ einig, was unverzichtbare Eckpfeiler einer alternativen, europäischen Wirtschaftspolitik sein müssen. Auch wenn die Situation und die Handlungsbedarfe in verschiedenen Ländern natürlich unterschiedliche Schwerpunkte erfordert, will ich auf vier Eckpfeiler eingehen:

  1. Öffentliches Investieren in Daseinsvorsorge und den sozial-ökologischen Umbau;
  2. Abbau außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte;
  3. Domestizierung der Finanzsphäre und
  4. Aufwertung und demokratische Neubegründung der EU als Akteur.
  1. Öffentliches Investieren: Der dringend nötigen Renaissance des Öffentlichen – nicht nur des Staatlichen – entspricht in der alternativen Wirtschaftspolitik vor allem die massive Ausweitung der öffentlichen Investitionstätigkeit, und zwar in den unterschiedlichsten Bereichen. Das geht es sowohl um materielle Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Hochschulen und Schulen, Kanalisation etc., aber auch Energie- und Datennetzen. Gleichzeitig bedarf es im Rahmen des sozial-ökologischen Umbaus auch immaterieller Investitionen in Bildung, in Gesundheit, in Pflege, in Inklusion. Und drittens – und keineswegs nachrangig – um die Verkehrs- und Versorgungsnetze, Bildung, Gesundheit und Pflege. Und es bedarf öffentlicher und öffentlich geförderter unternehmerischer Investitionen, in Deutschland z.B. massiv im Bereich des Wohnungsmarktes, d.h. einer groß angelegten Neubau- und Sanierungsoffensive alter und neuer öffentlicher Wohnungsbauunternehmen, die auf bezahlbares und sozial-nicht-trennendes Wohnen orientiert, also nicht nur billige Wohnsilos am Stadtrand errichtet. Bei dieser Initiative für „das Öffentliche“ geht es nicht nur um eine bessere und preisgünstigere Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern. Diese Initiative muss zugleich ein Experimentierfeld neuer Formen der Partizipation und demokratischen Kontrolle sein, die quasi einen wirtschaftsdemokratischen Sektor in der Ökonomie schafft.
  1. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte abbauen: Wirtschaftspolitik – also europäische Wirtschaftspolitik – muss systematisch immer auch im Sinne ökonomischer Konvergenz gedacht sein, die nicht durch Marktkräfte, sondern in der Regel nur gegen Marktkräfte erreicht werden kann. Konvergenz bedeutet auch, dass alle Mitgliedsländer in der Wirtschaftsgemeinschaft – und umso mehr in der Währungsunion – einen angemessenen Anteil an der industriellen Gesamtproduktion beitragen. Industrielle Produktion – z.B. im Vergleich zu den meisten Dienstleistungen – bringt tendenziell immer höhere Produktivität und höhere Lohnniveaus mit sich. Es kann nicht sein, dass einige wenige Länder in der EU – so wie Deutschland oder die Niederlande derzeitige – quasi die industrielle Produktion für die gesamte Union übernehmen und dann ihre Produkte dem Rest der Union verkaufen. Die Folge sind nämlich dramatische Leistungsbilanzüberschüsse für Deutschland und Holland, die die anderen Partner der Union zum Hinnehmen von Leistungsbilanzdefiziten zwingen. Und chronische Leistungsbilanzdefizite verursachen immer Arbeitslosigkeit und führen früher oder später in die Überschuldung. Schon seit der Verabschiedung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes 1967 ist die Erreichung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts ein wirtschaftspolitischer Auftrag an jede deutsche Bundesregierung. Leider haben die Bundesregierungen der letzten 50 Jahre diesen gesetzlichen Auftrag konsequent ignoriert. Der Auftrag ist aber heute aktueller denn je, denn mit der Schaffung des Euros wurden auch die letzten währungspolitischen Spielräume abgeschafft, um Leistungsbilanzungleichgewichte durch Währungsanpassungen abzufedern. Heute kann ein außenwirtschaftlichen Gleichgewichte in der Euro-Zone nur noch durch aktives Eingreifen in die Innovationsfähigkeit, in die Fiskalpolitik, in das Lohngefüge und in die Arbeitsmarktordnungen der Mitgliedsländer erfolgen.
    Und genau diese Eingriffe können entweder kooperativ und solidarisch erfolgen – oder die Anpassungslasten werden einfach den Schwächsten aufgebürdet. In der bisherigen Euro-Krise ist nur letzteres passiert, und an diesem Egoismus droht die EU nun aus-einander zu brechen. Länder wie Spanien, Portugal, Irland und Griechenland wurden zu Krisenländern erklärt, weil sie nicht nur der Ort der Krise, sondern auch die vermeint-lichen Verursacher der Krise seien.
    Eine solidarische, zukunftsfähige europäische Wirtschaftspolitik wird stattdessen darauf achten, dass durch öffentliche Förderung und gezielte Infrastrukturmaßnahmen neue Produktion und Innovation vor allem dort entstehen, wo die Not und die Arbeitslosigkeit regional besonders groß sind. Und sie muss Einfluss nehmen auf die Entwicklung der Löhne, der Produktivität und der Qualität der Arbeit.
    Und bitte keine Ausreden der Politik von wegen Tarifautonomie. Tarifautonomie ist eine historische Errungenschaft und muss verteidigt werden. Aber die Rahmenbedingungen, unter denen die Tarifparteien verhandeln, werden von der Politik gesetzt. Die ganze Agenda 2010 war nichts weiter als ein riesiger Eingriff der rot-grünen Bundesregierung ins deutsche Lohngefüge – zulasten der ärmeren Bevölkerungsgruppen in Deutschland UND zulasten Europas. Kein einzelnes Gesetzespaket trägt mehr Verantwortung für die Krise der Euro-Zone als diese deutsche Niedriglohn-Offensive.

 

  1. Domestizierung der Finanzsphäre: Eine erfolgreiche alternative Wirtschaftspolitik in und für Europa muss sich durch eine gemeinsames, geschlossenes Auftreten der europäischen Staaten auf den Finanzmärkten auf mindestens vier Ebenen auszeichnen:
    Das bedeutet erstens natürlich zunächst einmal eine deutlich stärkere Re-Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel, den Finanzsektor und vor allem die großen Finanzkonzerne dramatisch zu schrumpfen und zu entmachten. Im Ergebnis hat die globale Finanzkrise die Großbanken nicht kleiner, sondern größer gemacht. Das Risiko von „Too big to fail“ und die Konzentration politischer Macht in der Hand privater Konzerne ist dadurch nur noch größer geworden.
    Die herrschende Politik hat seit 2008 durchaus erhebliche Schritte zur Regulierung eingeleitet, aber sie waren und sind allesamt vom Leitbild der gewinnorientierten börsennotierten Großbank geprägt. Gerade den kleinteiligen und nicht-gewinnorientierten Finanzunternehmen wie Genossenschaftsbanken und Sparkassen wurde und wird damit das Leben unverhältnismäßig schwer gemacht, obwohl gerade sie ein Vorbild für einen sehr viel weniger krisenanfälligen und für Entwicklung der Realwirtschaft viel nützlicheren Finanzsektor sein sollten.
    Zu einem europäischen Auftritt der Politik gegenüber den Finanzmärkten gehört zweitens auch eine gemeinschaftliche Kreditaufnahme (Stichwort Euro-Bonds), um als na-tionale Regierung nicht länger dem Erpressungspotential der Anleger ausgeliefert zu sein.
    Damit ist keine Vergemeinschaftung der Staatsschulden gemeint und natürlich muss es auch vernünftige Regeln für die Nutzung dieser gemeinsamen Kreditaufnahme geben. Aber es gibt keine politische Rechtfertigung dafür, dass Deutschland als einerseits großes und wohlhabendes Land und andererseits als wesentlicher Mitverursacher der Euro-Krise durch das extrem niedrige Zinsniveau in zwei bis dreistelliger Milliardenhöhe profitiert, während die ohnehin von der Krise schon hart getroffenen Länder für ihre Staatsschulden auch noch zusätzlich irre Risiko-Aufschläge zugunsten privater Gläubiger bezahlen müssen. Das ist nicht nur nicht-solidarisch, das ist schlicht asozial.
    Eine alternative europäische Wirtschaftspolitik gegenüber den Finanzmärkten darf sich aber drittens nicht nur auf Finanzunternehmen im engeren Sinne konzentrieren. Es geht vielmehr um eine generelle Zurückdrängung der finanzmarktorientierten Unternehmenskultur, also des gesamten „Shareholder-Kapitalismus“. Durch Änderung von Bilanzierungsstandards und Meldepflichten, durch eine Zurückdrängung kurzfristiger Aktien- und anderer Wertpapiergeschäfte – Stichwort Finanztransaktionsteuer – und durch die Stärkung der Mitsprache der Beschäftigten und der Öffentlichkeit müssen Unternehmensziele endlich wieder längerfristig ausgelegt und einseitige Kostenverlagerungen zulasten von Beschäftigten, Umwelt und Gesamtgesellschaft verhindert werden. Konkret ließe sich das auf europäischer Ebene z.B. durch gemeinsame Mindeststandards bei Mitbestimmung und bei Transparenz- und Veröffentlichungspflichten für Unternehmen in der EU befördern.
    Und es bleibt nicht zuletzt viertens die Arena der Geld- und Währungspolitik. Die Europäische Zentralbank hat sich in der Krise als die mit Abstand handlungsfähigste europäische Institution erwiesen. Was auch immer man von der Geldpolitik der EZB hält – und ich halte geldpolitisch (nicht als Mitglied in der Griechenland-Troika) ziemlich viel davon –, sie hat trotz eines recht restriktiven Mandats und trotz bisweilen starken politischen Gegenwinds aus einzelnen Mitgliedsstaaten nach anfänglichen Startschwierigkeiten recht pragmatisch und undogmatisch auf die globale Finanzkrise reagiert. Diesen Pragmatismus der Geldpolitik gilt es auszubauen und der EZB diesen neuen Pragmatismus auch ausdrücklich ins geldpolitische Mandat zu schreiben, um ihr so den Rücken gegenüber den privaten Finanzmarktakteuren zu stärken.
    Es ist sicher kein Zufall, dass wir hier im Jahr 10 nach Beginn der globalen Finanzkrise zwei Arbeiten mit dem Jörg-Huffschmid-Preis auszeichnen, die sich beide intensiv mit der Schnittstelle von Regierungspolitik einerseits und Geldpolitik von Zentralbanken andererseits auseinandersetzen. Die politische Steuerung des Geldes, samt der Beeinflussung seines Außenwerts als Wechselkurs, ist ein sehr mächtiges Instrument, dessen Durchschlagskraft sich erst dann zeigt, wenn es durch wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Maßnahmen der Regierungen flankiert wird. Mit Geldpolitik allein kann man bei expansiver Konjunktur- und Wachstumspolitik bestenfalls das Schlimmste verhindern, nicht aber das Gute schaffen.
  1. Nach den skizzierten drei Eckpfeilern „Öffentliche Investitionen“, „Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte“ und der „Domestizierung der Finanzsphäre“ will ich nun als viertem Pfeiler einer alternativen Wirtschaftspolitik noch auf die EU als Akteur selbst eingehen. Die Europäische Union und ihre Institutionen stehen zurecht massiv in der Kritik und auch innerhalb der Linken ist die Frage hoch umstritten, ob man diese EU „NUR“ radikal reformieren muss, oder ob es einen europäischen institutionellen Neuanfang geben muss.
    Wie wir zuvor festgestellt haben, kann eine erfolgreiche alternative Wirtschaftspolitik nur eine europäische Wirtschaftspolitik sein. Dann versteht es sich von selbst, die Forderungen nach einer wirtschaftspolitischen Alternative auch an die EU zu richten. Gefordert ist dafür nicht nur eine andere Politik der EU, sondern eine andere EU selbst.
    Zu den wichtigsten Elementen einer grundlegend anderen EU, in der eine wirtschaftspolitische Alternative überhaupt erst sinnvoll vorstellbar wäre, gehören:
  1. die Schaffung einer Zuständigkeiten der EU für eine wirksame Koordination der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsländer entlang der oben genannten drei Eckpunkte, begleitet durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen über viele wirtschaftspolitische Fragen in der Union,
  2. eine deutliche Vergrößerung des Budgets der EU, damit eine für diese Koordination zuständige europäische Institutionen – nennen wir sie mal europäische Wirtschaftsregierung oder europäische Wirtschaftsministerin – auch über eine hinreichend großen eigenen Finanzspielraum verfügt, mit dem sie eigenständige Projekte anschieben kann, mit denen sich gesamtwirtschaftlich etwas ausrichten lässt,
  3. Solche Forderungen nach Aufwertung und quasi einem Vertrauensvorschuss für die EU ist den Bürgerinnen und Bürgern – und insbesondere den EU-Kritikern – nur dann zu vermitteln und zuzumuten, wenn die EU selbst viel demokratischer wird und sie ein soziales Profil zurückgewinnt. Es bedarf daher einer Aufwertung des Europäischen Parlaments, das endlich das Recht zur Einbringung eigener Gesetzesinitiativen bekommen muss und viel weitgehendere Befugnisse gegenüber der Kommission erhalten muss. Ein sozialeres Profil erhielte die EU dadurch, dass sie in ihren Politikempfehlungen endlich aufhört, soziale Standards nach unten zu nivellieren, statt soziale Missstände zu benennen. Eine Zuständigkeit für die Koordina-tion der Sozialen Sicherungssysteme und langfristig eine europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik können ein solches Profil der EU unterstützen. Es bräuchte daher auch zeitnah eines konkreten „europäischen Sozial-Leuchtturms“, der den Menschen hilft, sich Europa als Solidargemeinschaft vorzustellen. Ein Beispiel dafür könnte eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung sein, die es auch ökonomisch für einzelne EU-Länder unattraktiv macht, durch merkantilistische Politik einfach Arbeitslosigkeit ins EU-Ausland zu exportieren.
    Mit dem ungerechten und asozialen Konkurrenzgebaren in der EU, Stichwort „Steuerwettbewerb und Steueroasen“ muss dann natürlich ebenfalls Schluss sein. LuxLeaks, Panama Papers und Paradise Papers machen aber zugleich deutlich, wie weit wir von einem solchen Szenario entfernt sind.
  1. Last but not least wäre auch eine im Alltag der Bürgerinnen und Bürger erfahrbare Life-Style-Institution hilfreich. Nichts hat Europa für die Menschen erfahrbarer gemacht als die Freiheit des Reisens, sich in anderen Ländern Europas aufzuhalten, sei es nun aus berufliche Gründen, als Studium oder Praktikum im Ausland, oder einfach als Urlaubsreise. Wäre da nicht so etwas wie eine öffentliche europäische Eisenbahngesellschaft eine faszinierende Idee für eine gelebte Begegnungsinfrastruktur in Europa?

 

Abschluss und Ausblick

Damit will ich zum Ende kommen. Sicher gibt es über die vorgenannten Eckpfeiler einer alternativen europäischen Wirtschaftspolitik auch in der Linken viel Diskussionsbedarf in den Details und sicher auch den einen oder anderen größeren Dissens. Ich glaube aber, dass es eine bemerkenswert breite Einigkeit darüber gibt, dass nur eine derart breit angelegte Offensive und quasi Wieder-Erfindung des Politischen in Europa die derzeitige Krise zu überwinden vermag. Meine These als Ausblick lautet daher: „Europa muss ein soziales Europa werden, oder es wird als politisches Projekt auseinanderbrechen.“ Um aber Wohlstand für alle in Europa zu erreichen, braucht es starke politische Institutionen in Europa, die die Richtung vorgeben und dies nicht den Märkten überlassen.

Diese Institutionen müssen auf soziale Ziele verpflichtet sein und eine sehr viel demokratischere Mitwirkung der europäischen Bevölkerungen erlauben. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Das gilt auch in Europa. Ohne eine Alternative Wirtschaftspolitik in der EU, die für Europa die Produktion UND die Verteilung eines keines-wegs nur materiellen Wohlstands sicherstellt, besteht keine Aussicht auf ein soziales Europa – und auf eine Europäische Moral, die den Kontinent längerfristig zusammenhält.